Lesen Sie den folgenden Textauszug und geben Sie anschließend an, ob Antwort 1 oder 2 passender beschreibt, welchen Prinzipien ethnografische Forschung folgt.
„‚Ist das Wissenschaft? Darf ich mich so sehr einbringen? Sind meine Eindrücke nicht subjektiv?‘ – diese Fragen stellen sich viele Studierende der Kulturanthropologie während ihres Einführungsseminars in die empirischen Methoden. Bei der ersten Begegnung mit ethnografischen Arbeitsweisen bleiben Irritationen zurück, die auf den Kontext dieser Kurse verweisen: Sowohl in den Medien als auch im universitären Raum ist das Bild von rational agierenden Wissenschaftlerinnen dominierend, die aufgeklärt forschen und objektives Wissen zutage fördern. Das Infragestellen von ethnografischen Zugangsweisen und Erkenntnispositionen durch die Studierenden wird so zum Ausdruck eines Verständnisses von Rationalität, in dem Alltagswissen und Wissenschaftswissen getrennt sind. Beide Bereiche als zusammenhängend zu begreifen, sich einer Wissenschaft anzuvertrauen, die diese Trennung als Teil ihrer Methodenlehre aufhebt, kann Unsicherheiten entstehen lassen: Wenn diese Grenze keine ist, welche sicheren Abgrenzungen gibt es dann eigentlich? Ist mein Wissen über die Welt wahr? Gibt es so etwas wie Wahrheit überhaupt? Diese Unsicherheiten sind nicht so einfach beiseite zu schieben, dringen sie doch in das vor, was als erkenntnistheoretisches Fundament bezeichnet werden könnte – die Gewissheit, dass die Welt und man selbst existiert und dass das Wissen, das man von sich und der Welt hat, Wahrheitswert besitzt.
Der Körper der Studierenden ist die zentrale Figur im Erproben der empirischen Methoden und damit auch im Erleben von Unsicherheiten. An ihren Körpern und durch ihre Körper erleben sie bei ersten Versuchen in teilnehmender Beobachtung, bei Interviewsituationen oder auch bei Wahrnehmungsspaziergängen, was es heißt, wenn Grenzen fließend werden und sich auflösen. Mit einem Mal ist der Club am Freitagabend nicht mehr einfach nur der Ort, an dem man sich mit Freund_innen trifft, sondern gleichzeitig auch ein Raum voller schwitzender, Spaß habender, tanzender Menschen, die sich gemäß bestimmter sozialer Kodes verhalten und scheinbar einer Choreografie folgen, ein Ort also, der zu einem Forschungsfeld wird, das auf Grundlage von teilnehmender Beobachtung analysiert werden kann. Interviewpartner_innen, die sich aus Online-Bekanntschaften ergeben haben, produzieren nicht nur gesprochenes Datenmaterial, sondern sind vielleicht auch langweilig, unausstehlich oder gar sexuell anziehend. Und das eigene Viertel wird auf einem Wahrnehmungsspaziergang zu einer Welt sinnlicher Vielfalt, die sich nicht so leicht in das Schema von wissenschaftlicher Erkenntnis pressen lässt.“
Textauszug aus: Sebastian Mohr/Andrea Vetter (2014). Körpererfahrung in der Feldforschung. In: Christine Bischoff, Karoline Oehme-Jüngling und Walter Leimgruber (Hg.), Methoden der Kulturanthropologie, Bern: 101–116, hier: 101.