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Kultur der Ambiguität
Aus Thomas Bauer, „Kultur der Ambiguität: Eine andere Geschichte des Islams“, Berlin 2011.
Es lässt sich zeigen, dass im Laufe des 19. Jahrhunderts eine immer stärkere „Islamisierung des Islams“ stattfindet, zunächst in Europa, dann aber auch im Nahen Osten selbst, mit kuriosen Folgen. Das Wort „Islams“ ist dabei sowohl Bezeichnung einer Religion mit einem festen Bestandteil religiöser Normen als auch einer Kultur, die damit keineswegs deckungsgleich ist. […]
Ganze Bereiche säkularen Lebens werden durch die Bezeichnung „islamisch“ terminologisch sakralisiert, wodurch wiederum die Differenzierungen in den Gesellschaften des Nahen Ostens unkenntlich gemacht werden. So spricht man etwa unreflektiert von „islamischer Medizin“ und verfälscht damit die Tatsache, dass Medizin in den nahöstlichen Kulturen ein ausdifferenziertes Teilsystem der Gesellschaft war. Es hatte seine eigene Expertise, deren Expertenwissen ausschließlich den Standards ihrer eigenen Disziplin verpflichtet war. Theologen oder andere Religionsexperten hatten hier nicht mitzureden. Wenn ein Kranker einen wissenschaftlich ausgebildeten Arzt um Beistand rief, erwartete er, von ihm nach den allgemein anerkannten Standards der Galenschen Humoralpathologie [„Vier-Säfte-Lehre“, benannt nach Galenos von Pergamon, 2. Jh. n. Chr.] in ihrer Weiterentwicklung durch arabische, persische und indische Ärzte behandelt zu werden und entsprechende Therapien und Arzneien verordnet zu bekommen. Irgend etwas Islamisches im Sinne des religiösen Normensystems hatte diese Medizin nicht.
Dabei gab es so etwas wie „islamische Medizin“ tatsächlich, nämlich die sogenannte „Prophetenmedizin“, denn der Prophet Muḥammad selbst soll sich auch um die Gesundheit seiner Gemeinde gekümmert haben. So existieren zahlreiche, größtenteils nicht allzu zuverlässige Traditionen, in denen der Prophet diätetische Ratschläge für Gesunde und Kranke gibt. Diese „Prophetenmedizin“ wurde von Hadithgelehrten [Religionsgelehrten, die auf die Sammlung von Überlieferungen über den Propheten spezialisiert waren] – also nicht von professionellen Ärzten – gesammelt […]. Wer einen professionellen Arzt zu Rate zog, erwartete jedoch keine Honigrezepte nach prophetischem Vorbild […].
Man sieht also, was der Begriff „islamische Medizin“ anrichtet: Die Pluralität nahöstlicher Medizindiskurse wird negiert, der wissenschaftliche Medizindiskurs, der ganz und gar a-religiös ist, erhält mit dem Epitheton „islamisch“ ein unzutreffendes und irreführendes Beiwort […] und die Existenz eines fest etablierten gesellschaftlichen Teilsystems „Medizin“ wird verschleiert.