Auf den folgenden Seiten erwartet Sie eine Aufgabe zu dem Themengebiet „Textvergleich und postkoloniale Literaturkritik“.
Bitte lesen Sie sich zunächst den » Einführungstext zur Postkolonialen Literaturwissenschaft sorgfältig durch.
Postkoloniale Literaturwissenschaft
Ausgangspunkt der sog. postkolonialen Theorie ist die Feststellung, dass das Verhältnis zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten eine wechselseitige Beeinflussung zur Folge hat, die sich in deren jeweiligem Selbst- und Fremdverständnis und dadurch auch in kulturellen Repräsentationen niederschlägt und über die Beendigung der eigentlichen Kolonialzeit fortdauert. Somit kommen je nach Ausrichtung der Untersuchungen sowohl die Texte der Kolonisierten wie der Kolonisierenden in den Blick und der Untersuchungszeitraum reicht von den Anfängen der Kolonisierung bis hin zu ihren gegenwärtigen Folgeerscheinungen.
Gegenstände der Untersuchung sind einerseits die Texte, die aus der Sicht der Kolonialmächte verfasst wurden und deren imperialistisches Gedankengut und an europäischen Maßstäben orientierte, „eurozentrische“ Perspektive offen oder in vermittelter Form in sich tragen. Eine kritische Re-Lektüre im Zuge einer genauen Einordnung in die kolonial-historischen Zusammenhänge vermag auch auf bekannte Werke ein neues Licht zu werfen, wie der US-amerikanische Literaturwissenschaftler Edward W. Said (1935–2003) als einer der Ersten an englischsprachigen literarischen und nicht-literarischen Texten (Reiseführern, journalistischen Artikeln, wissenschaftlichen Abhandlungen, Chroniken) verdeutlichte (Culture and Imperialism, 1993).
Andererseits sind die Schriften, die in den (ehemaligen) Kolonien selbst entstanden sind, von besonderem Interesse, da sie ein anderes kulturelles Selbstverständnis zum Ausdruck bringen und Kritik an den Unterdrückungsmechanismen und der scheinbar selbstverständlichen Überlegenheit europäischer Kultur und ihrer Repräsentanten zum Ausdruck bringen können. Nicht selten zeigt eine genaue Untersuchung, dass solche Texte eurozentrische Klischees ironisch subvertieren (unterwandern) – und mitunter europäischen Lesern ihre unausgesprochenen kulturellen Normen vor Augen führen – oder sich überhaupt nicht mit herkömmlichen abendländischen Kategorien fassen lassen.
Kulturwissenschaftler wie etwa der indische Literaturtheoretiker Homi K. Bhabha (*1949) haben angesichts dessen grundsätzlich westlich-abendländische Konzepte wie die Gegensatzpaare von ‚zivilisiert‘ vs. ‚wild‘, ‚Zentrum‘ vs. ‚Peripherie‘, ‚Erste Welt‘ vs. ‚Dritte Welt‘ u. a. infrage gestellt. Der Begriff ‚Nation‘ selbst erscheint in Bhabhas Analyse als ein Konstrukt (eine ‚Narration‘), das durch einen selbstbezüglichen nationalistischen Diskurs unter Ausgrenzung des ‚Andersartigen‘ entsteht und durch Gegenentwürfe oder seine eigenen Ungereimtheiten in Frage gestellt werden muss.
Durch die (post)koloniale Situation entsteht schließlich eine Überlagerung und gegenseitige Durchdringung unterschiedlicher kultureller Traditionen, Vorstellungen oder Lebensweisen in einem sog. ‚dritten Raum‘ (third space), die Bhabha als einen fortwährend in Bewegung befindlichen und daher durch Uneinheitlichkeit und Unabgeschlossenheit charakterisierten Prozess der Hybridität beschreibt, welcher in der Folge zur Ausformung hybrider Identitäten führt (so in The Location of Culture, 1994).
Ansätze wie dieser, die nicht vorschnell von europäischen Kulturen als Norm ausgehen, sondern die Aufwertung der indigenen, d. h. angestammten Kulturen der Kolonialgebiete zum Ziel haben und ihre Spur in und Auseinandersetzung mit der dominanten europäischen Kultur erforschen, haben in der zweiten Hälfte des 20. Jh. in der Romanistik und in anderen Philologien große Bedeutung erlangt.
Text (leicht modifiziert) nach: Maximilian Gröne / Rotraud von Kulessa / Frank Reiser, Spanische Literaturwissenschaft, 3. Auflage 2016, Tübingen: Narr, 2012, S. 222ff.
Lesen Sie zudem vergleichend die beiden Texte. Sie können die Texte in der spanischen Originalversion oder einer deutschen Übersetzung lesen.
Text 1
Hernando Colón, „Historia del Almirante“ (1537/39), Capítulo CIII
[Columbus und seine Leute befinden sich in einer schwierigen Lage: Die Vorräte gehen zur Neige, und die Einheimischen, die sie anfangs reichlich versorgten, sind immer weniger und nur gegen immer höhere Gegenleistungen gewillt, Nahrungsmittel zu liefern. Mit Gewalt vorzugehen wiederum wäre sehr riskant.]
Pero como Dios nunca olvida a quien se le encomienda, como lo hacía el Almirante [= Cristóbal Colón], le advirtió el recurso que debía emplear para estar proveído de todo y fue éste: Acordóse de que al tercer día había de haber un eclipse de luna, al comienzo de la noche, y mandó que un indio que estaba con nosotros llamase a los indios principales de la provincia, diciendo que quería hablar con ellos en una fiesta que había determinado hacerles. Habiendo llegado el día antes del eclipse los caciques, les dijo por el intérprete, que nosotros éramos cristianos y creíamos en Dios, que habita en el cielo y nos tiene por súbditos, el cual cuida de los buenos y castiga a los malos […]; que igualmente, en lo que tocaba a los indios, viendo Dios el poco cuidado que tenían de traer bastimentos, por nuestra paga y rescate, estaba irritado contra ellos, y tenía resuelto enviarles una grandísima hambre y peste.
Como ellos quizá no le darían crédito, quería mostrarles una evidente señal de esto, en el cielo, para que más claramente conociesen el castigo que les vendría de su mano. Por tanto, que estuviesen aquella noche con gran atención al salir la luna, y la verían aparecer llena de ira, inflamada, denotando el mal que quería Dios enviarles. Acabado el razonamiento se fueron los indios, unos con miedo, y otros creyendo sería cosa vana.
Text 1 (deutsche Übersetzung)
Hernando Colón, „Historia del Almirante“ (1537/39), Capítulo CIII
[Columbus und seine Leute befinden sich in einer schwierigen Lage: Die Vorräte gehen zur Neige, und die Einheimischen, die sie anfangs reichlich versorgten, sind immer weniger und nur gegen immer höhere Gegenleistungen gewillt, Nahrungsmittel zu liefern. Mit Gewalt vorzugehen wiederum wäre sehr riskant.]
Deutsche Übersetzung:
Aber da Gott niemals denjenigen vergisst, der sich ihm anempfiehlt, so wie es der Admiral [= Kolumbus] tat, zeigte er ihm das Mittel, das er anwenden sollte, um alles zu bekommen, und das war das folgende: Er erinnerte sich, dass in drei Tagen bei Anbruch der Nacht eine Mondfinsternis eintreten würde, und hieß einen Indio, der uns begleitete, die ranghöchsten Eingeborenen dieser Provinz herbeirufen und ihnen ausrichten, er habe beschlossen, ein Fest für sie auszurichten, und wolle dort mit ihnen sprechen. Als am Tage vor der Mondfinsternis die Häuptlinge eintrafen, sagte er ihnen mit Hilfe eines Übersetzers, wir seien Christen und glaubten an Gott, der ihm Himmel wohnt und über uns herrscht, der für die Guten sorgt und die Bösen bestraft […]; ebenso im Hinblick auf die Eingeborenen, dass Gott angesichts ihrer geringen Anstrengungen, uns gegen unsere Bezahlung mit Vorräten zu versorgen, zornig auf sie sei und den Entschluss gefasst habe, eine große Hungersnot und die Pest über sie kommen zu lassen.
Da sie das vielleicht nicht glauben würden, wolle er ihnen im Himmel ein eindeutiges Zeichen hierfür geben, damit sie deutlicher die Strafe erkennen möchten, die von seiner Hand über sie kommen werde. Sie sollten also an jenem Abend aufmerksam den Mondaufgang verfolgen und sie würden ihn zornesrot entflammt sehen, als Ankündigung des Übels, das Gott ihnen schicken wolle. Nach dieser Rede gingen die Eingeborenen, manche angsterfüllt, andere in dem Glauben, das sei nur leeres Gerede.
Text 2
Augusto Monterroso [1], „El eclipse“ (1996)
Cuando Fray Bartolomé Arrazola se sintió perdido aceptó que ya nada podía salvarlo. La selva poderosa de Guatemala lo había apresado, implacable, definitiva. Ante su ignorancia topográfica se sentó con tranquilidad a esperar la muerte. Quiso morir allí, sin ninguna esperanza, aislado, con el pensamiento fijo en la España distante, particularmente en el convento de Los Abrojos, donde Carlos Quinto condescendiera una vez a bajar de su eminencia para decirle que confiaba en el celo religioso de su labor redentora [2]. Al despertar se encontró rodeado por un grupo de indígenas de rostro impasible que se disponían a sacrificarlo ante un altar [3], un altar que a Bartolomé le pareció como un lecho en que descansaría, al fin, de sus temores, de su destino, de sí mismo.
Tres años en el país le habían conferido un dominio mediano de las lenguas nativas. Intentó algo. Dijo palabras que fueron comprendidas. Entonces floreció en él una idea que tuvo por digna de su talento y de su cultura universal y de su arduo conocimiento de Aristóteles [4]. Recordó que para ese día se esperaba un eclipse total de sol. Y dispuso, en lo más íntimo, valerse de aquel conocimiento para engañar a sus opresores [5] y salvar la vida.—Si me matáis —les dijo— puedo hacer que el sol se oscurezca en su altura. Los indígenas lo miraron fijamente y Bartolomé sorprendió la incredulidad en sus ojos. Vio que se produjo un pequeño consejo, y esperó confiado, no sin cierto desdén [6].
Dos horas después el corazón de Fray Bartolomé Arrazola chorreaba su sangre [7] vehemente sobre la piedra de los sacrificios (brillante bajo la opaca luz de un sol eclipsado), mientras uno de los indígenas recitaba sin ninguna inflexión de voz, sin prisa, una por una, las infinitas fechas en que se producían los eclipses solares y lunares, que los astrónomos de la comunidad [8] maya habían previsto y anotado en sus códices sin la valiosa ayuda de Aristóteles [9].
Text 2 (deutsche Übersetzung)
Augusto Monterroso [1], „Die Sonnenfinsternis“ (1996)
Als Bruder Bartolomé Arrazola bemerkte, dass er sich verirrt hatte, sah er ein, dass nichts ihn mehr retten konnte. Der mächtige Urwald Guatemalas hatte ihn gnadenlos und unwiderruflich gefangen. In Anbetracht seiner völligen Ortsunkenntnis setzte er sich ruhig hin, um auf den Tod zu warten. Er war entschlossen, hier zu sterben, ohne jede Hoffnung, völlig allein, in Gedanken ganz im fernen Spanien, vor allem im Kloster von Los Abrojos, in das Kaiser Karl V. sich einmal von seinem Herrschaftssitz herabbegeben hatte, um ihm zu sagen, dass er auf den religiösen Eifer baue, von dem seine Arbeit zur Errettung der Seelen geprägt war [2].
Als er erwachte, fand er sich umringt von einer Gruppe ungerührt dreinblickender Eingeborener, die sich anschickten, ihn vor einem Altar zu opfern [3], einem Altar, der Bartolomé wie das Bett erschien, in dem er sich schließlich von seinen Ängsten, von seinem Schicksal, von sich selbst erholen würde.
In den drei Jahren seines Aufenthalts in diesem Land hatte er die Sprachen der Ureinwohner einigermaßen beherrschen gelernt. Er machte einen Versuch. Er sagte einige Worte; sie wurden verstanden. Daraufhin keimte in ihm eine Idee, die ihm seiner Begabung, seiner umfassenden Bildung und seiner genauen Aristoteles-Kenntnis [4] würdig schien.
Er erinnerte sich, dass für jenen Tag eine totale Sonnenfinsternis vorhergesagt war. Und er beschloss im Geheimen dieses Wissen auszunutzen, um seine Peiniger zu täuschen [5] und sein Leben zu retten. „Wenn ihr mich tötet“, sprach er zu ihnen, „kann ich dafür sorgen, dass sich die Sonne hoch oben im Himmel verdunkelt.“ Die Eingeborenen starrten ihn an und Bartolomé entdeckte Argwohn in ihren Augen. Er sah, wie sie sich kurz berieten und wartete mit Zuversicht und einer gewissen Verachtung [6] ab.
Zwei Stunden später verspritzte das Herz von Bruder Bartolomé Arrazola sein Blut [7] in einem kraftvollen Strahl über den Opferstein (der im gedämpften Licht einer verdunkelten Sonne schillerte), während einer der Eingeborenen mit völlig gleichförmiger Stimme und ohne Eile, Datum für Datum, die unendlich vielen zukünftigen Sonnen- und Mondfinsternisse aufzählte, die die Astronomen der Maya-Gemeinschaft [8] ohne die wertvolle Hilfe von Aristoteles [9] errechnet und in ihren Schriften festgehalten hatten.
» Text 1 (Hernando Colón) | » Text 1 (Deutsche Übersetzung) |
» Text 2 (Augusto Monterroso) | » Text 2 (Deutsche Übersetzung) |
Zur besseren Lesbarkeit können Sie sich die Texte gerne auch » als PDF runterladen.
Der erste ist ein Auszug aus einer Chronik der Kolonisierung, die von Hernando Colón, dem Sohn von Christoph Kolumbus, zwischen 1537 und 1539 verfasst wurde. Der zweite ist eine Kurzgeschichte des guatemaltekischen Schriftstellers Augusto Monterroso von 1996.
Im Text von Monterroso haben wir diejenigen Stellen markiert und nummiert (Nr.1 bis 9) , die sich als Subversion der kolonialen und eurozentrischen Perspektive verstehen lassen, wie sie in dem Text von Colón hervortritt. Im Anschluss an die beiden Texte müssen Sie eine Aufgabe lösen, die sich darauf bezieht.
Viel Erfolg dabei!