Die Multiperspektivität des Alten Testaments
Auch wenn wir gewisse Deutungen ausschließen können (so ist durch die Verwendung im Kontext deutlich, dass „Knecht, Sklave“ nicht wörtlich genommen werden darf), ist die ursprüngliche Intention des Textes ohne den Autor nicht mehr zu erhellen; wir können nur nach den Sinnpotentialen des Textes fragen – und die sind wie bei (fast) allen Texten in der Regel nicht auf eine eindeutige Lösung festzulegen. Tatsächlich werden noch weitere als die angegebenen Deutungen in der Wissenschaft diskutiert.
Wie gehen wir mit dieser Verschiedenheit der Deutungen um, insbesondere im Blick auf das Verhältnis zum Judentum? Um eine Antwort zu entwickeln, sei folgendes Zitat zu bedenken gegeben:
Zitat (aus: Einleitung in das Alte Testament, E.Zenger u.a.)
Aufgabe und Ziel der Bibellektüre ist es, diese unterschiedlichen [d. h. jüdischen und christlichen] Kontextualisierungen nicht zu nivellieren, sondern miteinander so ins Gespräch zu bringen, dass sowohl die ihnen allen gemeinsame Theozentrik als auch ihre spezifischen geschichtlichen, gesellschaftlichen und anthropologischen Kontexte zur Sprache kommen. Für jüdische Bibellektüre wird und muss dies dann anders geschehen als für christliche Bibellektüre, einerseits weil der Gesamtkontext jeweils unterschiedlich ist, andererseits aber auch, weil die Einzeltexte selbst als Zeugnisse der Lebendigkeit der Zuwendung Gottes multiperspektiv und für unterschiedliche Deutungen offen sind. … Konkret bedeutet dieses Programm, dass es keine vorgegebene Sinn- und Bedeutungspriorität des Neuen Testaments vor dem Alten Testament gibt und demnach auch keine Superiorität des Christentums gegenüber dem Judentum geben kann, wie christliche Theologie dies jahrhundertelang dekretiert hat. Vielmehr geht es darum, die alttestamentlichen und die neutestamentlichen Stimmen so in einen wechselseitigen Diskurs zu bringen, dass sie sich gegenseitig erhellen.
(E. Zenger u.a., Einleitung in das Alte Testament. 9., aktualisierte Auflage hrsg. von Chr. Frevel. Stuttgart 2016, 20f.)